Leo oder „Du darfst weinen, aber das will ich nicht sehen.“

Erzählt von Bibiana Schick, aufgeschrieben von Meike Rüsing

 

Es ist im Juni 2019, zwei Wochen vor den Sommerferien, als Leo, damals 7 Jahre alt, nach der Schule bemerkt, dass sein Urin rot gefärbt ist. Bei einem weiteren Toilettengang aber können er und seine Mutter Bibiana nichts Auffälliges feststellen. Drei Tage später erzählt Leo, sein Herz habe beim Sportfest „schlimm gepocht“ und als der Urin sich abends wieder rot färbt, fahren sie noch um 21:30 Uhr in die Notaufnahme des Universitätsklinikums Bonn.  

Es ist ein Freitagabend, als die Ärzte Bibiana und Leos Vater sagen, ihr Sohn habe einen 12 cm großen Knoten an der Niere. Noch in derselben Nacht fällt der Begriff „Nierentumor“ und um 2:30 Uhr werden Bibiana und Leo auf der kinderonkologischen Station aufgenommen.  

Leo ist wie immer guter Dinge. Nierentumor!?! Das sagt einem 7-Jährigen nicht viel. Bibiana erinnert sich, dass sie einfach nur überfordert war. Und als sie am nächsten Morgen das Krankenzimmer das erste Mal verlässt und direkt auf ein Kind ohne Haare trifft, schlägt die Realität erbarmungslos zu. Bereits fünf Tage später startet Leo mit der Chemotherapie. Kaum Zeit für die Eltern zu begreifen, dass das eigene Kind an einer lebensbedrohlichen Erkrankung leidet. Im Aufklärungsgespräch werden die Eltern von Brigitte von Schweinitz, Psychoonkologin des Förderkreises, begleitet. Eine Verbindung und ein unverzichtbarer Rückhalt, der bis heute besteht. 

 

Zu Beginn der Behandlung ist Leo sehr ängstlich. Für alle, die ihn kennengelernt haben, kaum vorstellbar! Aber die Nadeln, das tägliche Blutabnehmen und die ständigen Untersuchungen machen ihm Angst. Seine Eltern, die nun ihr Kind begleiten und beruhigen müssen, haben selbst Todesangst. Bibiana erinnert sich, kaum für die medizinischen Details von Leos Erkrankung aufnahmefähig gewesen zu sein. Brigitte von Schweinitz „übersetzt“ und erklärt unermüdlich. Denn die Diagnose steht mittlerweile fest: Wilmstumor Stadium IV mit Metastasen in Lunge und Bauchraum.  

Dennoch ist die Prognose gut. Der erste Chemo-Zyklus dauert sechs Wochen. In den ersten 14 Tagen geht es Leo sehr schlecht. Er erbricht dauerhaft. Als seine Haare ausfallen, beginnt auch Leo zu realisieren, dass er tatsächlich Krebs hat. Nach sechs Wochen erfolgt die erste große Bauch-OP. Leo wird eine Niere komplett entfernt. Die Chemotherapie hat gut angeschlagen. Eine Lungenbiopsie zeigt, dass die Lungenmetastasen zwar inoperabel sind, aber auch gut auf die Therapie reagiert haben. Leo wird auf Stadium III herabgestuft. Die Erleichterung ist riesengroß.  

Das darauffolgende Chemo-Protokoll umfasst 10 Blöcke, jeweils im Abstand von drei Wochen. Doch es gibt erste Komplikationen. Oft lässt das Blutbild eine Therapie nicht zu und sie muss verschoben werden. Es entstehen Verzögerungen. Gleichzeitig erhält Leo Bestrahlungen von Lunge und Bauch. Nach sechs Monaten ist sein Immunsystem derart supprimiert, dass er dauerhaft Fieber hat. Dennoch kämpft er sich durch und läutet im Juli 2020 die Glocke zum Therapieende.  

Leo ist voller Energie. Sowohl er als auch seine Eltern sind sicher, dass er es geschafft hat. Drei Monate später geht Leo wieder zur Schule. Er hatte sich nichts mehr gewünscht.  

Die ersten Nachsorgen sind unauffällig. Vor der Nachsorge im April 2021 hat Bibiana ein ungutes Gefühl. Bereits beim Ultraschall bemerkt sie Unruhe bei der sonst so fröhlichen Ärztin. Als sie kurz darauf zur Oberärztin der Kinderonkologie gerufen wird, ist klar, dass es einen Befund gibt.

Eine weitere Raumforderung im Bauchraum habe man gesehen, ein MRT (Magnetresonanztomographie) müsse gemacht werden. Dann steht fest: Leo hat ein Rezidiv.

Es ist Montag. Bereits eine Woche später wird er wieder mit einer Chemotherapie beginnen.  

 

Dieses Mal haben Bibiana und Leo eine Woche Zeit, um sich auf das, was kommt, vorzubereiten. Sie fragt Leo, was er sich am meisten wünsche: Schwimmen! Es ist Lockdown und alle Schwimmbäder geschlossen! Ein Freund hat ein Fitnessstudio und öffnet den zugehörigen Pool nur für Leo. Gemeinsam verbringen Bibiana und Leo zwei wunderbare Stunden dort und schaffen damit erneut eine schöne Erinnerung und schöpfen Kraft vor einer weiteren Therapiezeit.  

Mit dem Rezidiv hat sich Leos Prognose deutlich verschlechtert. Er hat wieder Metastasen in Lunge und Bauch. Dunkel erinnert sich Bibiana an die Zahl 20, die genannt wird, als sie nach der geschätzten prozentualen 5-Jahres-Überlebenchance fragt. Nach zwei Chemo-Zyklen und einer weiteren Operation ist klar, die Therapie schlägt nicht an. Die Ärzte schöpfen alle Möglichkeiten aus. Doch es gibt kaum Erfahrung mit einem derart ausgeprägt metastasierten Wilmstumor. Im Juni folgt die zweite große Bauch-OP. Die Metastasen werden entfernt, doch sehen die Ärzte auch, dass Leos Bauchfell massiv betroffen ist. Das Bauchfell ist nur sehr schwer operativ zu behandeln. Der Therapieplan muss geändert werden. Zur Auswahl steht zu dem Zeitpunkt die palliative Begleitung oder eine sogenannte Hyperthermie. Da Leo einen absoluten Kämpferwillen hat, kommt nur die zweite Option in Frage. In Düsseldorf werden Leo dafür zwei Schläuche in den Bauch gelegt, der Bauchinnenraum erhitzt und zeitgleich die Chemotherapie über die Vene zugeleitet. Eine wahre Tortur für den tapferen Jungen. Er übergibt sich ununterbrochen und in der fremden Umgebung fühlt er sich nicht wohl. Zudem müssen in Düsseldorf Kinder in Leos Alter ohne Eltern im Krankenhaus schlafen. Bibiana weigert sich, Leo allein zu lassen. Da es aber für Eltern keine Betten gibt, schläft sie auf einem Stuhl. Drei Blöcke lang. Für jeweils fünf Tage. Ein Spezialist in Dortmund traut sich schließlich Leo’s Bauchfell zu operieren. In einem sogenannten HIPEC-Verfahren wird sein Bauch geöffnet, befallenes Gewebe weggeschnitten und eine Chemotherapie zugeleitet. Die Risiken sind hoch. Leo ist das erste Kind, das eine HIPEC-Therapie erhält. Die Ärzte sind nicht auf Kinder eingestellt und trauen sich nicht, Leo eine PDA (Periduralanästhesie im Rückenmark) zu legen und so erhält er „nur“ eine Schmerzpumpe. Als Bibiana nach der Operation auf die Intensivstation kommt, hört sie ihr Kind schreien, wie noch nie in ihrem Leben. Das ist das erste Mal, dass Leo sagt, dass er nicht mehr weitermachen möchte. 

Im Oktober steht fest, dass die Lungenmetastasen nicht mehr nachgewiesen werden können. und eine Hochdosis-Chemotherapie wird für Dezember geplant.  

 

Doch Ende November zeigt die Bildgebung, dass Leos Lunge erneut befallen ist. Nur sechs Wochen nach dem letzten unauffälligen Ultraschall. Was jetzt folgt, ist das Gespräch, vor dem sich alle Eltern fürchten: Es gibt keine Heilungschancen mehr. Der Tumor wächst zu schnell nach und Leo ist von den vielen Behandlungen zu geschwächt. Eine Hochdosis-Chemotherapie würde er nicht überleben. Die Eltern beschließen, Leo nicht weiter zu quälen und nehmen ihr Kind mit nach Hause in eine palliative Versorgung. Auch in dieser hochsensiblen Phase steht Brigitte von Schweinitz den Eltern zur Seite.  Nach dem Gespräch mit den Ärzten steht Bibiana das Schlimmste bevor. Leo muss es erfahren. Der hat bereits gespürt, dass etwas nicht stimmt und sie mit Fragen gelöchert. Und obwohl vereinbart war, erst am folgenden Montag gemeinsam mit der Oberärztin mit ihm zu sprechen, hält Bibiana es nicht aus und sagt ihm, dass es keine Möglichkeit mehr gibt, seinen Krebs zu heilen und, dass sie mit der Therapie aufhören. Seine erste Frage bricht ihr das Herz: Muss ich jetzt sterben? Die Antwort ist schlicht: Ja. Das ist das erste Mal, dass Leo wirklich weint. 

Das Gespräch mit Frau Dr. Calaminus findet dennoch statt. Bibiana ist ihr bis heute dankbar für die ehrlichen, einfühlenden Worte, die sie gefunden hat. Leo hat viele Fragen. Tut Sterben weh? Die Ärztin antwortet mit großer Geduld. Zwei weitere Wochen fragt Leo viel. Wie ist das, wenn man geht? Sehen wir uns wieder? Als Antwort auf diese Frage kauft Bibiana einen Stern. Die Urkunde mit den Koordinaten hängen sie über Leos Bett und verabreden, sich auch nach Leos Tod jeden Abend zum Gutenachtsagen, an „ihrem“ Stern zu treffen. Das findet Leo gut und will danach nie wieder über den Tod und das Sterben sprechen. 

 

Kurz vor Weihnachten wird Leo noch einmal bestrahlt. Eine seiner Metastasen sitzt an der Luftröhre und die Bestrahlung reduziert die Gefahr, dass er beim Fortschreiten der Erkrankung Atemnot erleidet. Bis nach Weihnachten geht es Leo gut. Bereits davor, aber besonders in dieser Zeit sammeln die Eltern mit ihrem Kind viele schöne Erinnerungen: Sie gehen rutschen im Aqualand, besuchen die Bonner Polizei, Leo macht den Jeep-Kinderführerschein und darf einen Tag bei dem SEK und der GSG9 verbringen. Zu seinem letzten Geburtstag feiert er eine Lasertag-Party mit seinen Freunden, besucht die Lego Masters und trifft seine Lieblings-You Tuberin AwesomeElina. Und sie planen Anfang Februar mit Bibianas Schwester und Nichte nach Fuerteventura zu fliegen.  

 

Doch Ende Januar bekommt Leo Fieber. Jeden Abend. In dieser spezifischen Situation ein untrügliches Zeichen für Tumorwachstum. Mitte Februar beginnen die Schmerzen und eine Morphium-Pumpe wird in den Oberschenkel gelegt. An Weiberfastnacht erklärt das Palliativteam Bibiana, dass Leo in den Sterbeprozess eingetreten ist. Er ist zu diesem Zeitpunkt bettlägerig und desorientiert. Aber Leo überrascht wie so oft alle noch ein letztes Mal. Eines Abends wacht er auf und möchte Weißwürstchen essen, einen Smoothie und Cake Pops. Er sagt: „Ich muss jetzt ganz viel Fett zu mir nehmen, um auf die Beine zu kommen.“ Die Eltern machen alles möglich. Einmal sogar möchte er am Tisch sitzen, um Hotdogs zu essen. Auch das bewerkstelligen sie, obwohl Leo nicht mehr allein sitzen kann. Eine Woche später geht es ihm wieder schlechter und hält sodann die Augen geschlossen.  

Er isst und trinkt nicht mehr und seine Körperfunktionen schalten nach und nach ab. Das Palliativteam bittet die Eltern, Leo zu sagen, dass er gehen darf. Bibiana tut auch das.  

In der Nacht auf den 22. März atmet Leo unruhig. Bibiana legt sich zu ihm. Sie hält seine Hand, legt die andere Hand auf seine Stirn. Um 5 Uhr macht Leo die Augen noch einmal ganz weit auf, guckt Bibiana an und nimmt mit einem Lächeln seinen letzten Atemzug. Er ist 10 Jahre alt.  

 

Dann ist da nur noch Leere.  Weil Bibiana wie Leo ein Mensch ist, der sich akribisch auf Dinge vorbereitet, ist sie es auch in diesem Moment. Sie macht sich bewusst: Leo war zuhause, ruhig und hatte keine Schmerzen. Das war sein größter Wunsch und den hat sie ihm erfüllt.  

Die Eltern waschen Leo, ziehen ihm seine Lieblingskleider an, hören seine Lieblingslieder und warten auf den Bestatter. In seine Kuscheldecke gehüllt und von seinen geliebten Stofftieren umgeben, geht er schließlich auf seine letzte Reise.  

 

In den ersten Tagen nach Leos Tod gibt viel zu organisieren. Die Bestattung muss vorbereitet werden. Da Leo gerne im Wald war, soll er auf einem Waldfriedhof begraben werden. Die Beerdigung erlebt Bibiana wie in Trance. Und obwohl es der wohl traurigste Tag ihres Lebens ist, so ist es doch wunderschön. 130 Menschen sind gekommen, um sich von Leo zu verabschieden: Familie, Freunde, Schwestern, Ärzte, Lehrer, der Legobauer, die GSG9-Hundestaffel. Und auch Brigitte von Schweinitz ist diskret im Hintergrund an ihrer Seite. Als die Trauergäste in einer langen Schlange auf der Wiese stehen, um Leo unter seinem Baum die letzte Ehre zu erweisen, öffnet sich der Himmel und es geht ein unvorstellbarer Regenguss nieder. Alle sind sich einig: Das war ganz nach Leos Geschmack. Er hat sich auf einer Wolke vor Lachen gekringelt. Bibiana erinnert sich an den Tag als „wunderschönen Abschluss für eine lange Phase, die unendlich viel Kraft gekostet hat.“  

 

Danach zählt nur noch sie selbst. Sie muss sich jetzt “um sich selbst kümmern, damit es ihr wieder gut geht“. Weil sie gut auf diese Zeit vorbereitet war und, wie sie sagt, „den Gedanken an Leos Tod im Vorfeld wirklich und wahrhaftig zugelassen hat“, schafft sie es, weiterzumachen. Sie isst, schläft und unternimmt Dinge mit ihren Freunden. Sie hat nie das Gefühl, nicht weiterleben zu können. Leo hat immer zu ihr gesagt „Du darfst weinen, aber das will ich nicht sehen.“. Das ist Bibianas Antrieb. Seine Art und sein Charme konnten etwas bewegen. Jetzt möchte sie seine positive Lebenseinstellung in die Welt tragen. Natürlich gibt es Tage, die sind schlimm und das Vermissen ist riesig. Dann geht Bibiana an Leos Baum. Ihren „Therapieweg“ nennt sie das. Dazu hört sie Musik, erzählt Leo von ihrem Tag oder bringt ihm etwas mit. Mittlerweile weiß sie, worauf es ankommt und was sie braucht, wenn die schlimmen Tage kommen. Und sie reist viel. Sie möchte „für Leo die Welt sehen“. Das hatte er sich immer gewünscht. Sie sagt, „sie sieht dann die Welt mit Leos Augen“.  

 

Nun wird Bibiana sich auch für den Förderkreis engagieren. Das war ihr Wunsch vom ersten Tag an nach Leos Tod. Durch das, was sie selbst erlebt hat, es geschafft hat, positiv durch diese Zeit zu kommen, ohne dabei kaputt zu gehen, möchte sie auch anderen betroffenen Eltern helfen. Denn beeindruckenderweise ist der Krebs für Bibiana nicht komplett negativ besetzt. Viele erkrankte Kinder könnten geheilt werden. Und wenn nicht, dann könne man die verbleibende Zeit dennoch schön gestalten. Denn selbst Leo hat sich während seiner Erkrankung immer wieder für den Förderkreis eingesetzt. Gemalt hat er. Und seine Kunstwerke zu unseren Gunsten auf der Station verkauft. Bibiana ist sicher, Leo würde alles genauso gut finden, wie es jetzt ist. 

Ruth und Simon, Marlene und Pepe Schmid über die Bedeutung der Reiterfreizeit für erkrankte Kinder und Geschwister

Pepe ist im Alter von drei Jahren an Krebs erkrankt. Wie haben Sie davon erfahren? 

An den Tag der Diagnose erinnern wir uns sehr lebhaft. Pepe zeigte im Juni 2017 plötzlich Krankheitssymptome wie Übelkeit, Kopfschmerzen und Schläfrigkeit. Die Symptome nahmen von Tag zu Tag zu. Er schlief mehrfach am Tag ein, übergab sich und stolperte. Die Besuche bei der Kinderärztin blieben stets ohne Befund. Nachdem Pepes Kindergärtnerin sagte, dass er „irgendwie nicht er selbst“ sei und zweitweise nicht mehr richtig erschien, schickte uns die Kinderärztin ins Marienhospital. Dort schlief Pepe während der Untersuchung sogar auf dem Behandlungstisch ein. Ein MRT wurde angeordnet und Pepe in Narkose gelegt. Es kamen immer mehr Ärzte. Uns dämmerte, dass die Lage ernst ist. Dann wurden mein Mann und ich aufgerufen. Ich werde nie den Moment vergessen, als der Arzt aus dem UKB, der extra einberufen worden war, sagte: „Das Gehirn ihres Sohnes ist gut ausgebildet. Aber da ist etwas, was da nicht hingehört.“ Um mich herum wurde alles schwarz und die Details konnte ich gar nicht mehr aufnehmen. Der Tumor war groß. Pepe hatte stark erhöhten Hirndruck, deshalb ging es ihm so schlecht. Er schwebte in akuter Lebensgefahr.

Wie haben Sie die Therapie erlebt?

Als allererstes musste dieser Tumor raus. Wir wurden sehr freundlich und klar aufgeklärt, dennoch war es furchtbar die Dokumente mit den potenziellen Gefahren zu unterschreiben. Aber wir hatten keine Alternative. Drei Tage nach der Diagnose fand die neunstündige OP statt; die längsten neun Stunden unseres Lebens. Wir wussten nicht, ob er den Eingriff überleben wird oder in welchem Zustand wir ihn zurückbekommen würden. Dank der hervorragenden Neurochirurgin und ihres Teams lief alles nach Plan. Der Tumor konnte vollständig entfernt werden. Als Pepe aus der Narkose erwachte, kam der entscheidende Moment: Ist es noch unser Sohn? „Ich will Nudeln“ waren seine ersten Worte, da wussten wir, dass er noch derselbe ist. Die Diagnose lautete: Medulloblastom Grad IV. Ein Jahr lang erhielt Pepe 30 Bestrahlungen in direkter Kombination mit einer Chemotherapie und weitere acht stationäre Chemo-Blöcke.  Die Hinweise und Tipps zum Umgang mit immunsupprimierten Kindern haben wir sehr ernst genommen. Das hieß konkret: Zimmerpflanzen entsorgen, Duschwände rausreißen, Fugen säubern und erneuern, Schuhe sowie Kleidung, die außerhalb des Hauses getragen wurden, nicht in die Wohnung bringen, Nüsse, Müsli, Schokolade und Co. verbannen und vieles, vieles mehr. Unsere Familie hat uns bei diesen einschneidenden Maßnahmen sehr unterstützt. Unschätzbar großen Wert hatte die kompetente, geduldige und herzliche Behandlung des pflegerischen und ärztlichen Teams der Station. Wie viel uns aber der Förderkreis helfen würde, haben wir erst im Laufe der Zeit gespürt. Deswegen sind wir dem Förderkreis bis heute sehr dankbar und fühlen uns der Organisation eng verbunden. Die wöchentlichen Frühstücksbuffets, Spiel- und Bastelangebote, Mutperlen, Feste, wie St. Martin, Karneval und Nikolaus, der unfassbare Einsatz der Stationsküche bei nächtlichen Heißhungerattacken, die Beratung bei Behördenanträgen und einfach der ganz persönliche Austausch während der stationären Aufenthalte, waren ein ganz wichtiger Halt, der uns allen ein Fels in der Brandung war und bis heute ist.

Pepe hat eine Schwester. Wie konnte sie mit der Erkrankung ihres Bruders umgehen?

Marlene war bei Pepes Diagnose sieben Jahre alt und hatte gerade ihr erstes Schuljahr hinter sich gebracht. Für sie brach eine Welt zusammen. Sie wurde dem unbeschwerten Leben und dem Gefühl der Sicherheit, dass Kinder normalerweise haben, von jetzt auf gleich entrissen und musste sich mit einem schwerstkranken Bruder, dem Thema Tod, äußerst besorgten Eltern und Großeltern, einem Leben im Krankenhaus und sehr eingeschränkten Freiheiten zu Hause zurechtfinden. Es war äußerst hart für sie. Und gleichzeitig musste sie vormittags dem „normalen“ Leben in der Schule folgen. Von dort gab es damals nicht viel Unterstützung, das lief nicht optimal. Umso wichtiger waren die Angebote für Geschwister, die der Förderkreis angeboten hat. Marlene konnte während der stationären Phasen der Station entkommen und wurde durch die Psychoonkologen und Sozialpädagogen wunderbar betreut. Sie war sehr tapfer, hat sich komplett zurückgenommen und – wie wir – einfach funktioniert. Erst ca. 2-3 Jahre nach Therapieende zeigte sich, wie schwer es für Marlene wirklich war. Sie zog sich zurück und hat Kontakte in der Schule gemieden. Wir lernten, dass sich Geschwister häufig erst erlauben, die lange verborgenen und unterdrückten Gefühle an die Oberfläche zu lassen, wenn alle wieder in ruhigem Fahrwasser unterwegs sind. Es war eine große Erleichterung, dass wir auch zu diesem Zeitpunkt auf die Psychoonkologin des Förderkreises, Brigitte von Schweinitz, die uns seit dem ersten Tag kannte, zurückgreifen konnten. Sie arbeitete mit Marlene das seit zwei Jahren Erlebte und „Erfühlte“ auf. Marlene geht es heute wieder sehr gut.

2018 hat Pepe seine Therapie abgeschlossen. Wie haben Sie und Ihre Familie zurück in den Alltag gefunden?

Mit 11 Kugeln Eis! Als Pepes Immunsystem wieder so weit hergestellt war, dass er zur Eisdiele durfte, hat er elf Kugeln verdrückt. Das war ein Fest! Tatsächlich hat der Weg zurück in den Alltag aber sehr lange gedauert und manchmal habe ich den Eindruck, es dauert immer noch.  Erst ca. sechs Monate nach dem „Glocke läuten“ durfte Pepe wieder in den Kindergarten gehen und das auch nur mit einer Integrationskraft. Er hatte große Probleme mit seinem Gedächtnis, mit der Balance, war körperlich und seelisch nicht fit. Aber wir hatten ein gutes Team aus Erzieherinnen, Integrationsbegleiterin und Beratung von Ärzten und Sozialarbeitern. 2019 konnten wir dann in die Familien-Reha in die Syltklinik. Dort haben wir uns wirklich erholt. Allerdings nicht im Sinne von Wellness, sondern indem wir gesehen haben, was wir Pepe wieder zutrauen und zumuten können. Er hat dort Fahrrad fahren gelernt – etwas, das die Ärzte und wir nicht für möglich gehalten hätten! Marlene hat in der Reha andere betroffene Geschwister kennengelernt. Dieser radikale Tapetenwechsel, die vielen Angebote sportlicher Art, Physio- und Gesprächstherapien und nicht zuletzt der Austausch mit anderen Familien hat uns zurück ins richtige Leben geschubst. Um aber z. B. wieder Zimmerpflanzen anzuschaffen oder gar langfristige Pläne zu schmieden, dafür haben wir noch weitere Jahre gebraucht. Und natürlich stockt uns bei jedem Kopfschmerz, jedem Stolpern von Pepe kurz der Atem. Ich beruhige mich dann bewusst und sage mir, dass das ganz normal ist.

Zum zweiten Mal hat Pepe nun die Reiterfreizeit auf dem Hirschberg besucht. Das erste Mal war er mit seiner Schwester dort. Wie haben die Kinder von der Freizeit und dem Austausch mit anderen Betroffenen profitiert?

Zuerst war Marlene auf dem Hirschberg in Großalmerode, als Pepe noch in stationärer Behandlung war. Für sie war das eine ganz wichtige Zeit. Durch die Reha und die Corona-Zeit konnten beide erst 2022 zusammenfahren. Und in diesem Jahr war Pepe dann ohne seine Schwester dort.  Wir bekommen als Eltern ja gar nicht so viel von der Freizeit mit. Und das ist für die Kinder wahrscheinlich das Beste! Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass die Kinder das Gefühl bekommen, dass wir ihnen zutrauen, eine Woche ohne Eltern zurecht zu kommen. Daran wachsen die Kinder unheimlich. Betroffene Eltern sind vermutlich eher vorsichtiger und besorgter als Eltern ohne diese Geschichte. Natürlich sind die Kinder davon irgendwann genervt. Die Reiterfreizeit gibt ihnen ein Gefühl von Freiheit, Selbstbestimmtheit und Selbstständigkeit zurück. Sie dürfen und müssen selbst Verantwortung für sich übernehmen. Für uns als Eltern war das zunächst eine Überwindung, aber wir kannten die Betreuer lange und wussten, dass unsere Kinder zu jeder Zeit in den besten Händen sind. Ein weiterer wichtiger Erfolgsfaktor der Reiterfreizeit ist, dass die Kinder dort nicht nach einem Schema funktionieren müssen. Während der Behandlung und auch im Anschluss müssen die Kinder sich nonstop an Regeln und Abläufe halten. Während der Therapie ist das überlebenswichtig. Die Kinder können ihren Impulsen und ihrem Spieltrieb nicht nachgeben. Auf dem Hirschberg ist alles freiwillig. Wer reiten möchte, kann reiten, wer den ganzen Tag im Hühnerstall sitzen möchte, ist genauso akzeptiert. Langsamere Kinder sind ebenso richtig, wie die Schnellen. Das ist sehr bedürfnisgerecht und bietet allen Kindern echte Erholung.

Marlene, was bedeutet der Hirschberg für Dich, als betroffene Schwester?

Vor allem Spaß! Andere Kinder zu treffen, die verstehen, was wir durchgemacht haben, fühlt sich gut an. Dort herrscht ein großes Verständnis füreinander. Wir Kinder unterhalten uns ohne unsere Eltern anders über die Erkrankung. Als ich das erste Mal auf der Reiterfreizeit war, war mein Bruder in Therapie und ich erst 8 Jahre alt. Es hat mir geholfen zu sehen, dass es andere betroffene Kinder gibt und ich nicht allein bin. Die Beschäftigung mit den Tieren war toll, weil sie eben keine Menschen sind. Die Tiere hören einfach zu und ich konnte mich kümmern, kuscheln und mein Herz ausschütten, ohne dass jemand antwortet oder das, was ich sage, bewertet. Die Betreuer beim Förderkreis und auf dem Hirschberg hatten immer Zeit und konnten sich richtig mit mir und den anderen Kindern beschäftigen. Das hat mich abgelenkt und für mich wie eine kurze Pause.

Pepe, was bedeutet es Dir, auf dem Hirschberg zu sein und dort andere betroffene Kinder zu treffen?

Die Tiere sind toll und die Leute, die sich um die Kinder kümmern sind richtig nett und hilfsbereit. Neue Kinder und Erwachsene kennenzulernen, macht Spaß und es ist besser als in der Schule. Ich kann wie neu starten, weil mich nicht jeder kennt.  Im Bus auf dem Hinweg ist es schön und

spannend, neue und bekannte Kinder zu treffen. Ich finde es immer interessant zu erfahren, welchen Krebs andere Kinder hatten, wie viele OPs oder ob man einen Broviac (venöser Langzeitkatheter) oder Port hatte. Aber es ist kein Wettbewerb oder so. Es ist einfach spannend. Und ich habe großen Respekt vor anderen, die manchmal viel länger im Krankenhaus waren als ich.

Was ist Dein Highlight auf der Reiterfreizeit?

Die Tiere und vom Scheunendach zu springen! Ich habe mich zuerst nicht getraut, weil ich nicht wusste, wie man raufkommt und wegen der Höhe… Aber die anderen haben mir Mut gemacht und dann bin gesprungen. Und wenn man das einmal gemacht hat, dann will man gar nicht mehr aufhören! Mir gefällt auch, dass wir uns alle beim Reiten und Voltigieren gegenseitig loben. Normalerweise muss ich mir immer selbst Mut machen und auf dem Hirschberg machen die anderen mir Mut. Dort ist das ganz normal. Niemand wird komisch angeschaut oder geärgert, wenn er Hemmungen hat oder etwas noch nicht so gut kann. Da gucken wir gemeinsam, dass jeder es schafft. 

"Danke, dass Du mir die Murmel rausoperiert hast“     Wenn ein Kind an einem Hirntumor erkrankt

Erzählt von Martina und Jens Hopfinger

Aufgeschrieben von Meike Rüsing, Förderkreis für krebskranke Kinder und Jugendliche Bonn e.V.

 

Im Mai 2019 stellen Martina und Jens Hopfinger eine Veränderung an ihrem Sohn Markus fest. Der quirlige 5-Jährige, den sie immer mit Michel aus Lönneberga verglichen hatten, ist plötzlich auffallend müde. Er schläft nach dem Kindergarten ein, im Kindergarten selbst und einmal sogar auf dem Trampolin. Und trotz seiner neuerdings ausgiebigen Mittagsschläfchen ist Markus um 18 Uhr schon wieder erschöpft. Als er eines Tages sein Fahrrad vom Kindergarten zurückschieben muss, weil er keine Kraft mehr zum Treten hat, ist Martina klar, dass etwas nicht stimmt. Ein Besuch beim Kinderarzt ergibt zunächst den Verdacht einer Allergie und Markus wird ein Antihistamin verschrieben. Als auch Kopfschmerzen auftauchen, bekommt Markus zusätzlich ein Schmerzmittel. Martina und Jens versuchen sich zu beruhigen, dass die Medikamente ihren Jungen so müde und kraftlos machen, aber ein unruhiges Gefühl im Magen bleibt.

 

Am 13. Mai bringt Martina Markus zu ihrem eigenen Hausarzt und bittet um eine Blutabnahme. Sie besteht darauf, dass die Abnahme auf nüchternen Magen erfolgt. Der Folgetag ist schlimmer als alle anderen Tage zuvor. Markus schläft einfach durch, nur für 30 Minuten ist er wach. Aus Sorge hat auch Martina sich bei der Arbeit abgemeldet und ist zuhause geblieben. Dann der Anruf vom Hausarzt. Die Entzündungswerte sind zu hoch, sie soll Markus einem Kinderkardiologen vorstellen. Die beherzte Rezeptionistin des Kinderkardiologen jedoch hat direkt den Verdacht, dass es sich bei Markus um eine akute Erkrankung handelt und rät Martina, in eine Klinik zu fahren. Nach einer kurzen Beratung mit Jens steht fest, sie wird Markus ins Marienhospital nach Bonn bringen. Dass sie von dort für eine lange Zeit nicht mehr zurückkommen wird, damit hätte sie zu diesem Zeitpunkt nicht gerechnet.

Die Ärzte im Marienhospital beginnen direkt mit umfangreichen Untersuchungen. Gegen 13 Uhr bittet Martina, mit Markus zunächst etwas essen zu dürfen. Doch die Ärzte möchten erst noch ein MRT (Magnetresonanztomografie) vom Kopf machen. Dafür wird Markus leicht sediert und Martina darf mit in den Untersuchungsraum. Kurz nach Beginn der Untersuchung füllt sich der Kontrollraum mit immer mehr Ärzten, auf Nachfrage erhält Martina die Antwort: „Wir reden gleich.“ Da ist ihr klar, dass Markus nicht nur einen Schnupfen hat.

 

Als Jens im Krankenhaus ankommt, er war bis dahin bei ihrem älteren Sohn Matthias geblieben, bittet eine Kinderärztin die Eltern zum Gespräch. Und dann fällt der Satz, der das Leben der Familie für immer verändern wird: „Es tut uns sehr leid, aber ihr Sohn hat einen Hirntumor.“ Martina erinnert sich nicht an viel. Nur, dass Jens als erstes fragt: „Können wir das Bild einmal sehen?“. Eine unvorstellbare Ausnahmesituation.

 

Doch die erfahrene Kinderärztin vermittelt den Eltern von Beginn an ein Gefühl von Sicherheit. Es bestehe kein Grund zur Panik. Sie hätte bereits mit der Universitäts-Kinderklinik telefoniert, die Kinderonkologie dort sei auf kindliche Hirntumore spezialisiert. Der Satz: „Sie sind auf keinen Fall zu spät. Sie sind jetzt da und wir helfen ihrem Kind.“ bleibt Martina fest im Gedächtnis. Und dann kommt auch schon der Krankenwagen, der Markus und Martina in die Universitätskinderklinik – damals noch an der Adenauerallee - bringt. Gegen 17:30 Uhr läuft bereits Markus‘ erste Infusion, denn der Tumor liegt in einem Hirnödem, welches aufgelöst werden muss, um operieren zu können. Bis jetzt hatte Martina keine Zeit zu denken. Sie beschreibt die Situation heute so: „Ich wusste nicht, ob das ein Film war oder echt, aber ich hatte beschlossen, einfach mitzuspielen.“ Eine maßgebliche Rolle dabei, die Situation auszuhalten, spielt das Team der Station 4, der Kinderonkologie. Warmherzig und liebevoll wird sie aufgenommen, erinnert sich Martina. Die engagierten Ärzte und Pflegekräfte, aber auch die Mitarbeiter des psychosozialen Dienstes der Universitätsklinik Bonn, den der Förderkreis für krebskranke Kinder und Jugendliche Bonn e.V. durch die Finanzierung von drei Stellen seit Jahrzehnten maßgeblich unterstützt, werden für sie und Markus zu einem unverzichtbaren Anker. 

 

Am nächsten Tag steht erneut ein MRT und das Narkosegespräch für die Operation am Folgetag an. Also fahren Martina und Markus mit dem Taxi – auch ihr Fahrer Pascal sollte in den kommenden Monaten zu einer wichtigen Bezugsperson werden - zurück auf den Venusberg. An diesem Tag treffen sie und Jens zum ersten Mal die Neurochirurgin, die Markus später operieren soll. Großen Eindruck macht die Ärztin auf die Eltern, denn sehr kindgerecht erklärt sie Markus, was mit ihm passiert. „Du hast eine Murmel im Kopf. Die müssen wir herausholen. Denn wenn wir das nicht machen, wird sie dich noch kränker machen“. Markus Reaktion macht Martina und Jens noch heute Gänsehaut. „Aber wenn ihr mir den Kopf aufschneidet, dann bin ich doch im Himmel.“ Gemeinsam mit der Ärztin fangen sie Markus in diesem Moment behutsam auf.

 

Grundsätzlich ist ab jetzt alles nur noch darauf ausgerichtet, Markus die Situation spielerisch zu erleichtern. So wird sein Infusionswagen auf der Station schlicht „Hubi“ getauft und wenn die Wartezeit auf bildgebende Untersuchungen – natürlich nüchtern - zu lang wird, erfindet Martina lustige Lieder, die Markus zum Lachen bringen.

 

Glücklicherweise fühlt sich Martina durch die Pflegekräfte und Ärzte durchweg beschützt und umsorgt. Sie ist sehr gläubig und hat rückblickend tatsächlich nicht einmal gedacht, dass Markus es nicht schaffen könnte. Die Neurochirurgin klärt im Anschluss auch die Eltern über den Tumor und die Operation ihres Jungen auf und natürlich ist es nicht ganz so einfach, wie sie es Markus erklärt hat. Aber auch hier fällt wieder ein Satz, den Martina und Jens nie vergessen werden: „Wir wissen, dass Sie uns das Liebste geben, war Sie haben. Und wir tun alles, um Ihnen das Liebste auch wieder gesund zurückzugeben.“ Sätze wie diese sind es, die die verängstigten Eltern auffangen und ihnen Ruhe geben, auch wenn das in dieser Situation schier unmöglich erscheint.

 

Am nächsten Tag aber sind Markus‘ Entzündungswerte zu hoch und lassen eine Operation nicht zu. So muss die OP verschoben werden. Das ist das erste Mal, dass Martina zusammenbricht. Bisher waren sie und ihr Mann in einem festen „Fahrwasser“ mitgeschwommen. Es gab nie Zeit zum Nachdenken, doch nun gerät der Plan durcheinander. Vor ihr liegt nun ein langes Wochenende des Wartens und Hoffens. Viel Zeit verbringt sie mit Markus auf dem wunderschönen Spielplatz hinter der alten Kinderklinik. Ihre „Oase der Ruhe“, denn hier gibt es keinen Durchgangsverkehr. Nur die behandelten Kinder und Mütter mit Neugeborenen kommen hierher.

 

Am darauffolgenden Mittwoch – eine Woche später als geplant - wird Markus dann endlich operiert. Während Martina ihren Jungen bereits früh morgens den Ärzten übergibt, fährt Jens zu Martinas Schwester - und Markus‘ Patentante -, die erst am Abend zuvor aus einem Urlaub zurückgekehrt ist und noch nichts von der schlimmen Diagnose weiß. Doch auch sie ist bereits stutzig geworden, denn alle Freunde und Bekannte aus ihrem Heimatort Bürvenich haben an diesem Morgen in ihrem WhatsApp-Status eine Kerze für Markus „entzündet“. Was für eine beeindruckende Solidarität!

Während Jens also mit Martinas Schwester spricht, sitzt Martina mit ihrem Gebetsbüchlein in der Krankenhauskapelle. Und zum ersten Mal weint sie. Gegen 11:30 Uhr, das weiß sie noch wie heute, tritt sie mit der Gottesmutter Maria in ein Zwiegespräch: „Ich weiß, Dein Sohn wurde dir genommen, aber meinen darfst du mir nicht nehmen. Ich gehe jetzt. Du hast es in der Hand.“ In dem Moment überkommt Martina eine besondere Ruhe. Sie hört auf zu weinen und schafft es sogar, in der Kantine etwas zu essen.

 

Um 15:30 Uhr dürfen Martina und Jens Markus im Aufwachraum sehen. Und was soll man sagen: Markus will ein Nutella-Brot! Der Anästhesist schlägt zwar schmunzelnd vor, vielleicht zunächst einmal etwas zu trinken, zeigt sich aber grundsätzlich begeistert vom Verlauf der Operation und Markus‘ Zustand. Kurz darauf bringt der Krankenwagen die Familie auch schon auf die Intensivstation der Kinderklinik. Auf der Fahrt dorthin sagt Markus zu dem Anästhesisten, der den Intensivtransport begleitet: „Danke, dass du meine Murmel rausoperiert hast.“ Wieder so ein Satz, der sich den Eltern für immer in die Seele tätowiert.

 

Und Markus überrascht auch weiterhin alle. Nachdem er auf der Intensivstation den Kühlschrank geplündert hat, bekommt er Besuch von den Klinik-Clowns. Das Gewitter, dass die Clowns mit dem Lichtschalter veranstalten, bringt Markus so sehr zum Lachen, dass er sogar selbst wieder zum Scherzen aufgelegt ist.

 

Schon am Folgetag können die Katheder gezogen und Markus zurück auf Station 4 verlegt werden. Und auch die Ärzte haben gute Nachrichten: Der Tumor konnte komplett entfernt werden. Trotzdem entwickeln sich die Folgewochen zu einer emotionalen Achterbahnfahrt, denn der Tumor kann nicht eindeutig klassifiziert werden. Zwischenzeitlich stehen auch düstere Prognosen im Raum. Am Ende steht lediglich fest: Der Tumor war bösartig, aber er ist keiner bisher bekannten Tumorart zuzuordnen. Das bedeutet, dass er bestmöglich behandelt wird, aber keine Prognose gestellt werden kann, inwieweit oder wie lange die Behandlung anschlägt. Markus‘ behandelnde Ärztin in der Kinderonkologie schafft es dennoch, die Eltern zu beruhigen. Es ist der 29. Mai und sieben Tage nach Markus Hirn-OP, als sie die Eltern mit den Worten „Bringen wir es hinter uns“ zum Abschlussgespräch bittet. Sie entlässt Markus und seine Eltern mit einer Notfall-Medikamententasche (die übrigens nie gebraucht wurde) in ein paar Tage „Klinikurlaub“, denn schon bald wird Markus mit der Bestrahlung beginnen.

 

Die „Urlaubstage“ nutzen Martina und Markus, um zu einer Etappe ihrer alljährlichen Pilgerfahrt nach Trier dazu zu stoßen. In dem kleinen Ort Udler werden die beiden von ihrer Gemeinde und ihrem Pfarrer mit einem Spalier und großem Applaus empfangen. Martina erinnert sich noch heute, dass sie sich von ihrem „Dorf“ regelrecht getragen fühlte.

 

Die erste Bestrahlung findet an Markus‘ 6. Geburtstag statt. Weder an diesem, noch an irgendeinem anderen Tag hat Markus sich beklagt. Das hat zum Großteil auch mit dem tollen Team der Nuklearmedizin zu tun. Er darf seine Maske mit einem schwarzen Edding zum „Sturmtruppler“ aus den Star Wars- Filmen verwandeln. Er darf seine Lieblingsmusik mitbringen, die während jeder der 10-minütigen Sitzungen in Dauerschleife läuft. Vermutlich verfolgt alle Beteiligten über Monate „Rhythm is a dancer“ als Ohrwurm. Den „Jungen mit der Soundmaschine“ nennen sie ihn liebevoll. Nicht einmal sediert werden muss Markus, derart sicher fühlt er sich. Eine Mitarbeiterin nimmt sich sogar nach Feierabend noch 30 Minuten Zeit, um mit ihm und der Maske zu üben. Er darf selbst durch das Mikrophon im Kontrollraum sprechen und auch seine Kuscheltiere dürfen mit auf die Liege.  Ein wunderbares Beispiel, wie man Kinder in einer solchen Extremsituation mitnimmt und auffängt. Und so können alle 35 Bestrahlungen ohne eine einzige Unterbrechung stattfinden; die erste am 2. Juli 2019, die letzte am 15. August.

 

Mitte Juli ist in Bürvenich Schützenfest, einer der für den Ort wichtigsten Termine des Jahres. „Dafür nimmt man sich frei“, sagt Martina. Und natürlich ist auch Markus dabei. Ihr Taxifahrer Pascal fährt ihn nach der Bestrahlung direkt zum Schützenplatz, damit er auch wirklich nichts verpasst.

Ende September setzt Markus auch seinen Schwimmkurs fort. 14 Tage vor seiner Diagnose war er von seiner Schwimmlehrerin Simone Schridde von der Schwimmschule Wellenbrecher für einen Online-Schwimmkurs ausgesucht worden. Die Filmsequenzen dafür sind bereits abgedreht. Beim Fotoshooting am 3. Oktober ist er wieder dabei und sogar mit einem großen Foto in der Zeitung.

Nach der Bestrahlung folgt für Markus noch eine einjährige Chemotherapie in Tablettenform. Sie dient der Stabilisierung und Nachsorge und wird daher in einer Dosis zugeführt, die Markus seine Haare nicht verlieren lässt. Noch während der Chemo-Blöcke wird Markus eingeschult. Leider hat er nicht nur das Ende des Kindergartenjahres verpasst, weshalb der Übergang für ihn sehr abrupt erfolgt, auch werden seine Freunde aus der Kindergartengruppe in die Parallelklasse eingeschult. Das ist etwas unglücklich, aber nach einiger Zeit hat Markus sich auch hier eingelebt. Immerhin ist sein großer Bruder Matthias in der 4. Klasse derselben Schule und sogar Markus‘ Eingewöhnungspate. Und auch hier beweist die „Dorfgemeinschaft“ größten Zusammenhalt: Die Lehrer bieten jegliche Unterstützung und man sorgt im „Dorf“ gemeinsam dafür, dass Markus auch während der Chemotherapie mit dem Bus fahren kann. So bleibt der Einzelsitz hinter dem Fahrer jeden Tag wie selbstverständlich für ihn frei und alle Kinder warten beim Einsteigen, bis Markus sitzt und lassen ihn auch zuerst wieder aussteigen.  

 

Seit Oktober 2020 nimmt Markus nun keine Chemo-Tabletten mehr. Er gilt bis heute als krebsfrei und hat keinerlei neurologische oder motorische Langzeitschäden. Nach Martinas Empfinden ist er etwas zu klein und zu leicht, aber die Ärzte sagen, dass sei durchaus normal und darf auch so sein, nach einem derartigen Behandlungsmarathon, wie Markus ihn hinter sich hat. Grundsätzlich sagen seine Eltern, sei Markus schlicht „super drauf“.

 

Das Läuten der Glocke zum Therapieende am 22.10.2020 ist für alle ein einschneidendes Erlebnis. Für Markus, der sich freut, im Bus nun endlich wieder überall sitzen zu dürfen. Für die Eltern, bei denen nun endlich der Druck abfällt. Für die betreuenden Ärzte und Pflegekräfte, die den Jungen und seine Familie sehr ins Herz geschlossen und unermüdlich mit ihnen gekämpft haben. Und für das psychosoziale Team, das der Familie die ganze Zeit über zur Seite stand. Brigitte von Schweinitz, Psychoonkologin und seit über 25 Jahren im Dienst des Förderkreis für krebskranke Kinder und Jugendliche Bonn e.V., sagt: „Ich freue mich wirklich sehr für Markus und seine Familie. Die Zeit der Behandlung war eine Achterbahnfahrt der Emotionen, und dabei war Markus so unglaublich positiv. Und auch seine Eltern hatten einen unendlichen Glauben an das Gute. Wie sie diesen Weg gegangen sind, das hat mich sehr beeindruckt.“

 

Wenn man Martina heute fragt, was sie anderen Eltern mitgeben würde, die eine solch erschütternde Diagnose für ihr Kind erhalten, sagt sie, dass ihr persönlich ihr Glaube geholfen habe. Denn sie ist sicher, „dass Gott uns nur das Kreuz gibt, dass wir auch tragen können“. Und noch etwas hat sie sich immer wieder gesagt: „Markus hat den Tumor, nicht der Tumor Markus“. Sie könnten selbst bestimmen, wie sie mit der Situation umgehen. Für sie gibt es nur ein Möglichkeit: Weitergehen, immer weiter. Keinen Raum lassen für Eventualitäten. Die Familie lebt im Hier und Jetzt. Gerade Markus selbst lehrt sie immer wieder, seine Situation anzunehmen. Als er eine traurige Frau ohne Haare an der Bushaltestelle sieht, fragt er sie unvermittelt: „Hast du auch eine Murmel im Kopf?“. Nach einer kurzen Aufklärung durch Martina war die Frau gelöster, obwohl sie kurz vorher noch geweint hatte. So ist Markus und so wirkt er auf andere Menschen.

 

Natürlich sagt Martina, „bekommt man eine ganz andere Einstellung zum Leben“. So kann auch die Zeit der Pandemie die Familie nicht aus dem Konzept bringen. Denn sie hat schon ganz anderes überstanden. „Die Diagnose“ fügt Jens hinzu, „war harte Realität. Aber durch die Fürsorge unserer Familien, Freunde, Bekannten und allen Mitarbeitern rund um das UKB sind wir weich gefallen. Dafür unser allerherzlichstes Dankeschön.“

 

Und so plant Familie Hopfinger für die Zukunft. Nachdem der einzige Tiefpunkt in Markus‘ Therapiezeit die Karnevalszeit 2020 war -auf der Hälfte der Chemo in der dunkelsten Jahreszeit - beginnen sie bereits jetzt mit den Vorbereitungen für die Session 2022. Denn dann feiert ihr Karnevalsverein sein 50-jähriges Jubiläum. Markus größter Traum ist es Kinderprinz zu werden. Einen passenderen Titel kann es für unseren kleinen Superhelden wohl nicht geben.

 

Danke, Martina und Jens, dass ihr Euer Innerstes für uns nach außen gekehrt habt. Wir wünschen Euch von ganzem Herzen ein langes, glückliches Leben und vor allem, dass die Murmel für immer verschwunden bleibt. Und wenn Markus wirklich einmal Kinderprinz wird, sind wir alle dabei! Versprochen!

 

Fünf Engel für Juleen

Erzählt von Heike Engelsing, aufgeschrieben von Meike Rüsing

 

„Es war das Beste, was wir machen konnten; für Juleen und für unsere Familie. Was das Kind uns gegeben und geschenkt hat, dafür sind wir sehr dankbar.“

 

Im September 2018 kommt die damals 9 Monate alte Juleen auf die Station 4 in der Universitäts-Kinderklinik Bonn. Das immer fröhliche kleine Mädchen mit den großen dunklen Knopfaugen wird wegen eines Immundefekts sowie einem resistenten Virus im Blut behandelt. Schnell ist klar: Nur eine Knochenmarkstransplantation kann ihr Leben retten. Ihre Chancen diese zu überleben sind minimal. Nun übernimmt auch der Förderkreis Bonn einen Teil der Betreuung der kleinen Juleen, um die jungen Eltern zu unterstützen. Heike Engelsing, Erzieherin im psychosozialen Team, ist drei Mal in der Woche an Juleens Seite; von den Ärzten auf eine palliative Begleitung vorbereitet.  

 

Doch Juleen will leben. Sie überlebt nicht nur die Knochenmarkstransplantation, sondern erholt sich zu aller Überraschung vollständig. Heike betreut sie intensiv und versucht ihr immer wieder neue Anreize und Beschäftigungen zu bieten. Sie bringt ihr verschiedene Musikinstrumente und singt mit ihr. Doch Juleen singt nicht nur gerne, sie hört auch gerne andere singen. Manchmal singt Heike 20 ausgedachte Strophen von „Der Mond ist aufgegangen“, um Juleen in den Mittagsschlaf zu begleiten. Das freut auch die Schwestern im Schwesternzimmer, die mit dem Zimmer per Babyphone verbunden sind… :o) Von der Physiotherapie erhält Heike eine Matte, um sich mit Juleen darauf zu bewegen und die Physiotherapie zu unterstützen. Mit Erfolg: Bald kann Juleen sich bereits am Bett hochangeln. Sie macht Wassergewöhnung mit einer Schüssel und beobachtet mit Juleen die Autos auf dem Klinikparkplatz. Alle Beschäftigungen müssen im Krankenzimmer stattfinden, denn Juleen darf dieses nach der Transplantation viele lange Wochen nicht verlassen.

 

Die ersten Schritte außerhalb machen Heike und Juleen nach etwa acht Wochen. Vorher hat das ganze Team mit Juleens Puppen das Mundschutztragen trainiert. Und dann ist der Moment gekommen: Juleen möchte raus. Heike wickelt ihren Schützling in einen Erwachsenenkittel (etwas anderes ist nicht zur Hand), und geht mit ihr auf dem Arm den Flur auf und ab. Ein unglaubliches Erlebnis, das viele Klinikangestellte und andere Eltern begeistert begleiten. Bald dürfen die zwei auch den Phsyiotherapieraum nutzen, so dass wieder neue Aktivitäten für Juleen hinzukommen.  

 

Im Mai 2019 kann Juleen entlassen werden. Zu diesem Zeitpunkt ist bereits klar, dass Juleen nach ihrer Entlassung nicht zu ihren leiblichen Eltern zurückkehren kann. Eine fieberhafte Suche des Jugendamtes nach einer Pflegefamilie beginnt. Schnell kristalliert sich heraus, dass diese nicht rechtzeitig gefunden werden kann und Juleen zunächst in einer Bereitschaftspflegefamilie untergebracht werden muss. Heikes erster Gedanke: „Das möchte ich ihr ersparen“. Sie stellt sich die Frage, ob sie Juleen nicht für diese Zeit in ihrer Familie aufnehmen könnte. Aber das kann sie natürlich nicht allein entscheiden. Ihr Mann, ihre Tochter und ihre zwei Söhne müssen auch einverstanden sein. Sie erzählt aber vorerst nur einer einzigen Kollegin von ihrer Idee. Am nächsten Tag fliegt Familie Engelsing gemeinsam in einen 3-wöchigen Urlaub. Auf der Rückreise erhalten sie noch am Kofferband am Frankfurter Flughafen einen Anruf. Heike wird tatsächlich gefragt, ob sie sich vorstellen kann, Juleen übergangsweise bei sich aufzunehmen. Auf der Autofahrt nach Bonn muss nun also eine Entscheidung getroffen werden. Lange braucht Familie Engelsing nicht. Alle sind sich einig, der kleinen Juleen ein Zuhause auf Zeit schenken zu wollen.

 

In den nächsten Tagen wird das Jugendamt informiert und der Prüfungsprozess beginnt. Eine Ortsbegehung im Familienzuhause findet statt, polizeiliche Führungszeugnisse müssen eingereicht und viele Fragen beantwortet werden. Schließlich erhält Familie Engelsing den Status einer „Bereitschaftspflege“. Jetzt bleibt noch eine Woche Zeit, ein Kinderzimmer einzurichten und das Haus wieder kleinkindsicher zu machen. Plötzlich braucht Heike wieder eine Wickelkommode, obwohl ihre eigenen Kinder schon 16 und 18 Jahre alt sind. Dann ist es soweit: Juleen darf in der Klinik mit der Glocke das Ende ihrer Therapie einläuten und zieht in ihr neues Zuhause in Bonn-Plittersdorf.

 

Heike sagt noch heute, dass ihre Familie regelrecht schockverliebt in das aufgeweckte, lebenslustige Mädchen war, dass sich vom 1. Tag bei Engelsings wie zuhause fühlt. Sie ist neugierig und fröhlich und erfreut sich sehr an ihren neuen „Geschwistern“. Doch es gibt auch viele Auflagen der Ärzte. Juleen darf keinerlei Kontakt zu anderen Kindern haben, muss einen Mundschutz beim Verlassen des Hauses tragen und ihre Hände mehrmals am Tag desinfizieren, denn ihr Immunsystem ist noch immer stark geschwächt. Das bedeutet auch, dass die eigenen sozialen Kontakte der Familie auf ein Minimum reduziert werden müssen. Alle Hobbies liegen auf Eis. Ein gefühlter Lockdown.

 

Das Essen und Trinken fällt Juleen sehr schwer. Dass sie 1 Liter Wasser am Tag trinken soll, bereitet Heike Kopfzerbrechen. Sie beginnt, ihr löffelweise Wasser zuzuführen. Dabei singt sie wie so oft stundenlang. Bald kann sie vom Löffel auf ein Babyfläschchen umsteigen. Als sie an Tag 7 zum ersten Mal den Liter schafft, entfährt ihr vor Erleichterung ein regelrechter Freudenschrei.

 

Heikes Kinder helfen ihr in jeglicher Form. Sie spielen mit Juleen, fahren mit ihr spazieren, bringen sie ins Bett, lesen ihr vor und achten darauf, dass sie genug trinkt. Die drei Geschwister bilden ein wunderbares „Rund um Sorglos-Paket“ für das kleine Mädchen. Heikes Tochter Lisa betreut Juleen sogar allein, als Heike mit ihrem Mann für wenige Tage verreisen muss. Während der stationären Aufenthalte in der Klinik löst sie immer wieder Heike ab. Und auch zu Hause kümmert sich Lisa besonders liebevoll um Juleen. Die beiden haben ein sehr inniges Verhältnis zueinander. Als im Dezember Heikes Sohn Luca von einem Auslandsaufenthalt in Australien zurückkehrt, wird auch er direkt in Juleens Bann gezogen. Er steigt direkt in die Betreuung ein, zuständig für wildes Toben und Fußballspielen. Mittags hat Leon immer geklingelt, wenn er aus der Schule kam und Juleen hat ihm freudestrahlend die Tür geöffnet. Meistens hat Juleen ihn direkt zum Spielteppich gezogen. Ganz oft haben sie ihr gemeinsames Lieblingslied gehört. Das ist bis heute „unser“ Lied, das uns mit Juleen verbindet. Lisa hat dieses Lied ( mit vielen anderen) auf einen „Tonie“ überspielt, den Juleen mitnehmen durfte.

 

Jede Woche fährt Heike mit ihr in die Klinik zur Kontrolle der Blutwerte und ihres Allgemeinzustands. Im Herbst folgt die Entfernung des Ports, einige Medikamente werden abgesetzt und nun darf Juleen das Haus auch ohne Mundschutz verlassen. Heike ist beeindruckt, wie mutig und tapfer sie alle Behandlungen, Untersuchungen und Kontrollen meistert.  

 

Einmal in der Woche besucht Heike mit Juleen ihre Eltern. Das ist unüblich, doch durch die räumliche Nähe in diesem Fall möglich. Ihre Eltern hatten der Unterbringung bei der Förderkreis-Mitarbeiterin, die Juleen so liebevoll durch die Therapie begleitet hat, sofort und freiwillig zugestimmt.

Drei weitere Krankenhausaufenthalte steht Heike mit Juleen durch. Natürlich war ihr klar, dass sie vollumfänglich für Juleen verantwortlich ist. Aber in dem Moment, in dem sie das erste Mal mit ihr im Krankenhaus eincheckt, trifft sie diese Erkenntnis nochmal einmal mit voller Wucht.

Doch das Geschenk, dass Juleen Familie Engelsing macht, wiegt alles auf. Sie ist eine absolute Bereicherung für alle Familienmitglieder, die sich anstecken lassen von ihrem Enthusiasmus und ihrer Neugierde. Das Haus ist wieder laut und bunt. Es gibt ein Bällebad, eine Spielküche und einen Triptrap. Und Juleen ist dankbar für alles, was ihr angeboten wird. Sie freut sich zu spielen, liebt es Bücher anzuschauen und fängt schließlich an zu sprechen. Zu Heike sagt sie bald „Mama“, während sie ihre leibliche Mutter liebevoll „Mama habibi“ nennt. Und hier wird wieder einmal klar: Mama muss keine bestimmte Person sein, Mama ist ein Gefühl!

 

Auch einen 2-tägigen Besuch bei einem Familientreffen in Münster kann Juleen miterleben. Natürlich für sie passend gemacht, mit Mundschutz und separatem Platz zum Essen. Mit ausdrücklicher Genehmigung der Kinderklinik fährt Familie Engelsing sogar gemeinsam mit ihr in den Skiurlaub. Zwar kann Juleen einige Dinge, wie z.B. Restaurantbesuche, nicht mitmachen, dennoch ist der Urlaub für sie ein riesiges Erlebnis. Sechs Jugendliche reißen sich um das süße Mädchen, dass so neben dem Schneeerlebnis immer jemanden zum Spielen hat.

 

Dann kommt der Moment, an dem das Jugendamt mitteilt, eine Langzeitpflegefamilie für Juleen gefunden zu haben. Eine erfahrene Pflegemutter und ihre 29-jährige Tochter freuen sich, ihr ein neues Zuhause zu bieten. Zu diesem Zeitpunkt ist Juleen bereits acht Monate bei Familie Engelsing. Fünf Monate länger als geplant.

 

Es folgt eine umfangreiche Zeit der Eingewöhnung. Es finden viele Treffen sowohl bei Heike also auch bei der Pflegemutter statt. Heike hatte bereits lange Zeit vorher begonnen, Juleen das Mantra „Ich komme zurück.“ vorzusagen, so dass das kleine Mädchen eine tiefe Sicherheit fühlt, ihre „Mama“ nie ganz zu verlieren. Bei der ersten Übernachtung in ihrem neuen Zuhause bleibt Heike bei ihr. Es ist ein langsamer und sehr sanfter Wechsel. Heute – 5 Monate später – können wir sagen, Juleen ist angekommen und fühlt sich wohl. Sie hat weiterhin Kontakt zu Heike und ihrer Familie. Ein liebevoll von Heikes Tochter Lisa gestaltetes Fotobuch, das Juleens Lebensabschnitt im Hause Engelsing dokumentiert, erinnert sie für immer an ihre fünf Engel. Und auch ihre leiblichen Eltern darf Juleen weiterhin sehen. Insgesamt hat Heike Juleen 15 Monate betreut. Der Abschied fiel allen schwer, dennoch war er nötig und es war immer klar, dass diese außergewöhnliche Begleitung nur temporär sein würde.

 

Heike selbst sagt: „Es war das Beste, was wir machen konnten; für Juleen und für unsere Familie. Was das Kind uns gegeben und geschenkt hat, dafür sind wir sehr dankbar. Uns bleiben viele wunderbare Erinnerungen. 11 Jahre habe ich auf der Station 4 der Kinderklinik gearbeitet. Und erst jetzt habe ich die andere Seite, die der betroffenen Eltern, kennengelernt. Ich habe großen Respekt vor dem, was die Eltern leisten, die oft 24 Stunden mit ihren Kindern in einem Zimmer isoliert sind. Und in der jetzigen Zeit der Pandemie wiegt diese Belastung doppelt schwer. Weder Ehepartner, Großvater oder Großmutter dürfen das betreuende Elternteil ablösen. Es ist völlig auf sich allein gestellt. Diese Erfahrungen sind eine große Bereicherung für meine Arbeit. Heute bin ich – noch mehr als zuvor – davon überzeugt, wie wichtig es ist, dass es den Förderkreis gibt. Ich habe nun selbst erlebt, wie verloren man sich nach einer solchen Diagnose in der Klinik fühlen kann und wie schön es ist, wenn jemand kommt und unaufgefordert fragt: Kann ich Ihnen helfen?“

 

Wir bedanken uns von Herzen bei Heike und ihrer Familie für diesen bedingungslosen Einsatz und dafür, dass sie uns an den persönlichsten Eindrücken aus dieser Zeit haben teilhaben lassen. 


Von einer Familie mit vier Kindern – eins davon ist unsichtbar

Erzählt von Lisa, aufgeschrieben von Meike Rüsing

Foto: Lisa und Brigitte von Schweinitz, Psychoonkologin Förderkreis Bonn e.V.

 

Als Lisa aus dem Krankenhaus trat, der Regen auf den Asphalt fiel und das Licht der Straßenlaterne sich darin spiegelte, wurde ihr klar: Das ist jetzt real, das war heute mein Tag und ist wirklich geschehen.

 

Bis zum dritten Monat war Anja ein gesundes und fröhliches Baby. Im Nachhinein waren erste Krankheitsanzeichen sicher da, aber eben völlig unauffällig. Anja hatte eine Neugeborenen-Akne entwickelt, da fielen die kleinen Petechien (kleinste Hauteinblutungen) dazwischen gar nicht auf. Ja, sie war blass, aber beide Eltern sind ebenfalls sehr hellhäutig. Also ganz normal, oder?

 

Doch an einem Tag im November erlitt Anja auf dem Wickeltisch einen Kreislaufzusammenbruch. Ihrer Mutter Lisa war sofort klar, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte. Die jungen Eltern wickelten das kleine Mädchen in eine Decke und fuhren mit dem Taxi ins Marienhospital. Auch dort wurde die bedrohliche Situation sofort erkannt und Anja ohne Wartezeit in die Notaufnahme gebracht. Heute sagt Lisa oft zu besorgten Eltern: „Ärgert Euch nicht, wenn Ihr im Krankenhaus warten müsst. Denn wenn man Euch warten lässt, ist alles in Ordnung.“

Die Eltern saßen in einem Nebenraum, nichtsahnend, dass ihre kleine Tochter gerade reanimiert wurde. Reanimationsmaßnahmen bei Säuglingen sind schwierig, aber Anja hatte zudem noch Rollvenen und nur noch einen HB-Wert (HB: Hämaglobin, roter Blutfarbstoff) von 2,2 g/dl (Normwert 9,1-12,5 g/dl). Nach der erfolgreichen Reanimation war schnell klar: Anja leidet an einer ernsthaften Bluterkrankung. Sie war an Leukämie erkrankt.

 

Bevor sie sich versahen, waren Lisa und ihr Mann mit Blaulicht in die Universitäts-Kinderklinik Bonn gefahren worden. Anja wurde auf der Intensivstation versorgt und die Eltern führten ein erstes Aufklärungsgespräch. Zu der niederschmetternden Diagnose kam noch die Nachricht, in der ersten Nacht nicht bei ihrer Tochter übernachten zu dürfen. Unter Schock machten sie sich also auf den Weg nach Hause. Als Lisa aus dem Krankenhaus trat, der Regen auf den Asphalt fiel und das Licht der Straßenlaterne sich darin spiegelte, wurde ihr klar: Das ist jetzt real, das war heute mein Tag und ist wirklich geschehen.

 

Am nächsten Tag begann für Anja und ihre Eltern ein 4-monatiger Aufenthalt in der Kinderklinik an der Adenauerallee. Nach drei Tagen auf der Intensivstation bezogen sie ihr Zimmer auf Station 4 – der Kinderonkologie. Für die junge Mutter unvorstellbar, dass dies von nun an ihr „Zuhause“ sein sollte. Sie erinnert sich noch heute, dass ihr behandelnder Arzt sagte: „Sie werden sehen, wie viel Spaß hier stattfindet“. Und tatsächlich: Er hatte Recht. Kinder flitzten mit Bobbycars über die Flure und ihre Eltern hatten Mühe mit den Infusionsständern Schritt zu halten und ein Junge spielte im Spielzimmer seine Gehirn-OP mit Knete nach. Die Lebensfreude der Kinder sprang auf die besorgten Eltern über. Mittelpunkt der Station war die Küche. Die „Küchenfeen“ des Förderkreis Bonn e.V. waren nicht nur Köchinnen, sondern auch Zuhörerinnen, Trösterinnen und irgendwann Freundinnen. Sie sorgten auch dafür, dass es auf der Station immer lecker roch. Das gemeinsame Essen der Eltern im Gemeinschaftsraum gab allen Kraft und vor allem Zerstreuung. Aber auch der damalige Chefarzt der Kinderonkologie war Fels in der Brandung und Kraftspender. Gefühlt war er immer da und verließ seine Station erst, wenn er jedem einzelnen Kind „Gute Nacht“ gesagt hatte.

 

Aber natürlich war die Zeit für Anja und ihre Eltern nicht einfach. Die Eltern mussten viele neue Handgriffe lernen. Wie ziehe ich mein Kind um, wenn doch überall Schläuche und Kabel liegen? Wie bewege ich mich mit Kind UND Infusionsständer? Aber all das wurde bald Routine.

 

Anjas Prognose war gut. Fünf Chemoblöcke waren geplant. Die ersten zwei verliefen problemlos und die Therapie schlug an. Die kleine Patientin vertrug die Behandlung gut, war fit und wie immer fröhlich. Es gab keinerlei Zweifel, dass sie ihre Erkrankung überstehen würde. Doch der dritte Chemoblock ging von vorneherein schief. Anja bekam hohes Fieber, das sich nicht senken ließ. Sie bekam einen Ausschlag und Husten; Diagnose: Lungenentzündung. Für ein Kind unter Chemotherapie lebensgefährlich. Aber noch immer zweifelten Lisa und ihr Mann nicht im Geringsten daran, dass ihre Kleine es schaffen würde. Und das findet sie noch heute unheimlich wichtig, denn jeder Zweifel raubt Kraft. Leider kam es in ihrem Fall anders. Anja starb am 5. Tag auf der Intensivstation, auf der sie eigentlich nur zur Sicherheit lag. Ihre Lunge war einfach zerfallen. Sie wurde nur 7 Monate alt. Die Welt stand still. Es war etwas geschehen, was einfach nicht geschehen durfte.

 

In den ersten Tagen nach Anjas Tod blieben Lisa und ihr Mann im Förderkreis-Elternhaus. Die verwaiste Mutter fühlte sich, „als wäre sie 90 Jahre alt“. Erst nach einigen Tagen war sie in der Lage – gestützt von ihrem Mann – ein paar Schritte zu gehen. Die Familie war angereist und auch zwei Freundinnen waren nach der Nachricht von Anjas Tod gekommen – sofort und ohne Scheu. Diese Situation gemeinsam auszuhalten, war ein Freundschaftsbeweis, der ihnen niemals vergessen wird.

 

Zurück in ihrer Wohnung, aus der sie sechs Monate später ausziehen würden, denn zu groß und schwer wog die Erinnerung an Anja, versuchte Lisa einfach nur zu überleben. Während ihr Mann arbeitete, war sie freigestellt. Sie bekam Besuch von Freunden und Familie, suchte ein Ventil in ihrer Kreativität. Doch es schien ihr unmöglich, zurück in die Gesellschaft zu finden. Wie konnte sich die Welt weiterdrehen? Die Sorgen anderer Menschen erschienen ihr unverschämt nebensächlich. Ihre Tochter war gestorben! Wieso stand das nicht auf dem Titelblatt jeder Zeitung? Doch Aufgeben war für sie keine Option. Auch ihr Mann hatte ein Kind verloren, ihre Mutter ein Enkelkind. Im Verantwortungsbewusstsein ihnen gegenüber musste sie weitermachen.

 

Ein wichtiger Schritt zurück in die Normalität war der Weg zurück in den Beruf. Denn wie Lisa erst jetzt bemerkte, hatte ihr die Zugehörigkeit zu einer „Gruppe“ gefehlt. Ihre letzte Gruppe auf der Kinderonkologie hatte sie unvorbereitet und von jetzt auf gleich verlassen müssen. Nun gehörte sie zumindest wieder zur Gruppe der Berufstätigen.

 

Nur wenige Monate nach Anjas Tod wurde Lisa überraschend schwanger. Die Schwangerschaft sollte sich als große Herausforderung erweisen, denn Lisa konnte sich nicht auf ein neues Kind einlassen und ignorierte die Schwangerschaft weitgehend. Ungerecht kam es ihr vor und auch die Reaktionen aus dem Umfeld schreckten sie ab. „Ach wie schön, dann habt ihr ja wieder ein Kind.“ Gut gemeint, aber für Lisa kaum zu ertragen. Sie suchte sich psychologische Hilfe, denn groß war die Angst, das Kind auch nach der Geburt nicht annehmen zu können. Doch das konnte sie. Benjamin traf Lisa mitten ins Herz. Das Leben ging also weiter! Zwei Jahre später wurde Tochter Miriam und im Jahr darauf Sohn Florian geboren.

 

Doch Anja ist nicht vergessen. Nach ihrem Tod hatten die Eltern den Brief einer Frau erhalten, die ähnliches erlebt hat. Ein Satz hat sich für immer in ihr Gedächtnis gebrannt: „Du musst jetzt lernen, mit deinen Toten zu leben“. Und genau das haben Lisa und ihr Mann geschafft. Ihre Kinder sagen heute ganz selbstverständlich, dass sie zu viert sind. Anja ist im Familienleben präsent. Nicht tragend oder tieftraurig, sondern ganz natürlich. Insbesondere für Benjamin, der „quasi auf dem Poppelsdorfer Friedhof aufgewachsen ist“, ist Anja eine Begleiterin im Hinterkopf, ein Helferlein, ein Engel. „Mama, was würde Anja dazu sagen?“ oder das spontane Miteindecken des Tisches für die nicht sichtbare Schwester kommen immer wieder vor. Als ein neuer Küchentisch angeschafft wurde, musste er groß genug sein, damit auch Anja Platz hat. Und die Familie verbringt noch heute viel Zeit auf dem Friedhof. Die Kinder bekleben Steine und pflegen ihr Grab. „Mama, ob Anja das gefällt?“, „Von wo glaubst du, kann sie den Stein am besten sehen?“ fragen sie dann.

 

Der Schmerz ist geblieben, aber die Trauer hat sich verändert. Lisa gelingt es heute wieder, die Probleme anderer ernst zu nehmen. Sie sagt, ihre Familie ist nicht komplett, aber OK. Sie sind eine Familie mit vier Kindern, von denen man eins halt einfach nur nicht sehen kann. Lisa und ihr Mann haben ihren ganz eigenen Weg gefunden, wieder glücklich zu werden.

 

Der Tod eines Kindes ist ein Tabuthema in der Gesellschaft. Das macht es betroffenen Eltern noch schwerer, darüber zu reden. Tatsächlich sind es hauptsächlich Kinder, die mit dem Thema sehr offen umgehen; an ihnen könne man sich ein Beispiel nehmen. Lisas Neffe zum Beispiel hatte für Anjas Beerdigung eine Vase von unten bemalt. Auf die Frage, warum er das gemacht hat, antwortete er ein wenig überrascht „Na, weil Anja das Bild doch sonst nicht sehen kann.“

 

Bis heute besucht Lisa die Gruppe verwaister Eltern des Förderkreis Bonn. Hier muss sie sich nicht erklären. Jeder weiß, wie es sich anfühlt, ein Kind zu verlieren. Und besonders schön: Hier halten sie die Erinnerung an ihre Kinder wach. Sie sprechen über sie, aber nicht nur über die Zeit, in der die Kinder erkrankt waren, sondern auch über die unbeschwerte Zeit davor.

 

Aber jeder muss seinen eigenen Weg finden, doch am Ende wird manches wieder gut, anders gut, aber gut. 

 

Wir bedanken uns bei Lisa, dass sie uns an Ihrer Geschichte hat teilhaben lassen und wir diese anlässlich des Internationalen Kinderkrebstags 2020 erzählen durften.